Der schlimmste Tag in meinem Leben

–English Version below–

(Das letzte gemeinsame Foto – geschossen am 16.03.2014 bei meiner Firmung in Weikendorf)

Dieses Mal habe ich auf Twitter eine Umfrage gestartet und gefragt, was euch am meisten interessieren würde. Das Ergebnis war sehr eindeutig, deswegen werde ich heute über meine Erfahrung mit Trauer und über den schlimmsten Tag in meinem Leben berichten.

Der schlimmste Tag meines Lebens war und ist der 10. September 2015. Eigentlich ein sehr unscheinbares Datum. Der Donnerstag der ersten Schulwoche. Ich bin Vormittags von der Schule entschuldigt, weil ich als Komparse bei den Dreharbeiten von “Der Mitte der Welt” dabei war. Danach bin ich zu meiner Stiefschwester nach Hause gefahren (anm. zu dieser Zeit hatte ich bei meiner Stiefschwester gewohnt) und habe mich kurz hingelegt.

Meine Stiefschwester weckt mich verweint auf, sie meinte, dass sie jetzt zu meiner Stiefmutter fahren würde und fragte mich unscheinbar: “Magst du mitfahren?” Ich sagte ja und stieg ins Auto. Die ganze Autofahrt lang weinte sie. Ich wusste nicht, was geschehen ist. Wir steigen aus uns stehen beim Eingang unseres kleinen Hauses in Niederösterreich. Die Polizei steht vor unserer Eingangstür, meine Stiefmutter weinte, bekam fast keine Luft. Sie kommt auf mich zu und ich konnte schon ahnen, was passiert sein muss. “Der Papa hatte einen Autounfall. Er ist tot. Es tut mir so leid.”

Ich hatte sie verstanden. Konnte es aber irgendwie nicht glauben, nicht realisieren. Ich stand unter Schock. Einer der schlimmsten Momente in meinem Leben war für mich angebrochen. Normalerweise sollte kein 15-jähriger so etwas erleben müssen. Ich hätte nie damit gerechnet. Ich dachte, ich würde meinen Schulabschluss mit ihm erleben. Dass er bei meiner Sponsion dabei wäre und sieht, wie ich mit einem lächerlichen Abschlusshut meine Rolle entgegennehme. Mich beim Erwachsen-werden begleitet. Mir dabei zusieht, wie ich noch ganz viele Fehler mache, mir hilft und ich weitermache. Das alles erlischte in diesem Augenblick.

Ich stand regungslos da. Konnte keine Emotionen zeigen. Ich sah alle diese Leute um mich herum weinen – sie konnten alle nicht aufhören. Und ich stand einfach nur regungslos da. Ich machte mir Gedanken und ein schlechtes Gewissen, warum ich nicht weinte. Ich dachte mir es kommt sicher komisch rüber, wenn ich als Sohn nicht weine. Irgendwann habe ich das Gefühl gehabt, dass mir diese Umgebung, traurige und weinende Menschen, nicht gut tun. Ich habe mich unwohl gefühlt und habe den Mann von meiner Stiefschwester gebeten, mich wieder zu ihr nachhause zu fahren. Dort hat mich eine Watsche der Gefühle erwischt. Der Schock war vorbei. Ich habe 2 Stunden lang durchgeweint.

Ich habe mich angestrengt, mich zu erinnern, was das letzte war, was ich zu ihm gesagt habe. Es fiel mir einfach nicht ein.
Mein Vater war den Großteil seiner Zeit arbeiten. Unter der Woche auf der Baustelle und am Wochenende irgendwo “pfuschen”, wie wir am Land gerne sagen. Viel habe ich ihn nicht gesehen – genauso wenig habe ich mit ihm geredet. Ich bin mir heute immer noch nicht sicher, was die letzte Unterhaltung war, die wir geführt haben. Aber an eines kann ich mich immer noch sehr gut erinnern. Mein Papa hatte immer die Angewohnheit immer gleich darauf zu reagieren, wenn man ihm von einer guten Schularbeit oder einem guten Test erzählt hatte:

 

“Papa, ich hab einen Einser in Physik!”
“Spitze!”
Und während er “Spitze” sagte, kneifte er immer die Augen stolz zusammen und lächelte.

Ich habe mir an dem Abend eingeredet, dass mich das nicht allzu sehr beeinflussen darf. Deswegen hatte ich den Beschluss gefasst, am nächsten Tag in die Schule zu gehen. Am nächsten Tag in der Schule angekommen, habe ich meiner Deutsch-Professorin erzählen wollen, was passiert ist. Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht aussprechen was passiert war. Hätte ich es ausgesprochen, wäre es mehr wahr geworden. Ich stand kurz vorm Weinen – und hab es dann irgendwie geschafft, zu umschreiben, was am Vortag geschehen ist. Meine Professorin hat dann gesagt:”Flo – du gehst jetzt sofort nach Hause und nimmst dir Zeit für dich. Wenn ich dich heute nochmal in der Schule sehe, trete ich dich höchstpersönlich raus. Ich würd dich jetzt gern in den Arm nehmen, aber dann würd ich auch zum Weinen anfangen.”

Gesagt – getan. Nur bin ich nicht nach Hause gefahren. Ich bin durch die Stadt gefahren, ohne irgendein Ziel. Irgendwie erinnerte mich alles an meinem Vater. Die Stromleitungen der Bim (anm. er war Elektriker), ein erbsengrüner Renault, der vorbeigefahren ist. In genau so einem hatte er mir das Fahren auf Feldwegen beigebracht. Ein schwieriger Tag für mich. Meine Mama wollte unbedingt, dass ich sie und meine Schwester treffe. Ich wollte das aber nicht. Was hätte es mir gebracht? Wir hätten uns angesehen und alle im Kanon zum Weinen angefangen. Das wollte ich unter gar keinen Umständen. Ich habe sie fast ein Monat gemieden – bis zur Beerdigung.

Man hat mir angeboten, eine Rede zu halten. Ich habe mein bestes gegeben. Ich habe sogar meiner Deutsch-Professorin die Rede Korrektur lesen lassen. Ich redete über die Vollkommenheit. Wann eine Person als vollkommen bezeichnet werden kann und wann nicht. Aus einer Perspektive kann etwas vollkommen wirken, was aus einer anderen Perspektive nicht so ist. Geendet hat meine Rede so:

 

War mein Vater vollkommen? Nein. Aber er war vollkommen freundlich, vollkommen zuvorkommend und hin und wieder auch vollkommen faul. Aber das Einzige was zählt ist, dass wir ihn vollkommen gern gehabt haben und deswegen heute alle hier sind.

Ich habe mir lange schwer getan, von seinem Tod zu erzählen. Meine Stimme fing immer zu zittern an, wenn ich versuchte, darüber zu reden. Mittlerweile geht es leichter – ist aber immer noch schwierig für mich.

Ich würde gerne so viel von ihm wissen und würde ihm gerne so viel erzählen. Ich würde ihm gerne fragen, was er für eine politische Einstellung hatte, oder was sein Lieblingsbier war. Ich würde gerne Geschichten aus seiner Jugend erfahren. Über seine Fehler reden, die er gemacht hat. Was seine Jugendsünden waren. Ich würde so gern so vieles wissen, was ich jetzt nie erfahren werde. Manchmal bin ich geradezu neidisch, wenn Freund*innen ein gutes Verhältnis mit ihren Eltern haben und solche Dinge fragen können. Ganz werde ich mich damit nicht abfinden können – so viele offene Fragen zu haben. Ich vermisse ihn sehr. Ich werde ihm nie vergessen.

(Eines seiner Lieblingslieder, das ich noch gut in Erinnerung habe, ist “My Name Is Not Susan” von Whitney Houston. Wir haben zu Silvester immer dazu getanzt. Hier für euch verlinkt, falls ihr das Lied noch nicht kennt, oder meinem Papa zuliebe abspielen möchtet)

Hast du noch Fragen/Anregungen/Kommentare? Dann schreib mir gerne auf Twitter oder auf Instagram!

FA,
euer Florian

 

 

(Our final photo together – taken on 16.03.2014 at my confirmation in Weikendorf)

 

This time I started a poll on Twitter and asked what would interest you the most. The result was very clear, so today I will tell you about my experience with grief and about the worst day of my life.

The worst day of my life was and is September 10, 2015. Actually a very uneventful date. The Thursday of the first school week. I was excused from school in the morning because I was an extra during the filming of “The Middle of the World”. Afterwards I went home to my stepsister (note: at this time I had lived with my stepsister) and laid down briefly.

My stepsister woke me up crying, proceeding to tell me that she was going over to my stepmother’s house and asked me inconspicuously: “Would you like to go with me?” I said yes and got into the car. She cried all the way in the car. I didn’t know what had happened. We got out and stood at the entrance of our small house in Lower Austria. The police were standing in front of our front door, my stepmother was crying and could hardly breathe. She came up to talk to me. I could already have guessed what must have happened. “Papa has had a car accident. He has died. I am so sorry.”

I understood what they had told me. But somehow I couldn’t believe nor comprehend it. I was in shock. One of the worst moments in my life had begun for me. No 15-year-old should ever have to experience something like this. I would never have expected it. I thought I would experience my graduation with him. That he would be there to see me accepting my certificate with a ridiculous graduation hat. Accompanying me as I grow up. Watching me make mistakes, helping me and then continuing on. All these expectations vanishing within seconds.

I stood there motionless. Couldn’t show any emotions. I saw all these people crying around me – they couldn’t stop. And I just stood there. Motionless. I felt guilty about why I wasn’t crying. I thought it would look strange as I was not crying as his son. At some point I had the feeling that these surroundings, sad and weeping people, did me no good. I felt uncomfortable and asked my stepsister’s husband to drive me back home. There a wave of emotions came over me. The shock was over. I cried for 2 hours.

I tried hard to remember what the last thing I said to him was. It just didn’t occur to me. My father was working most of his time. During the week at the construction site and on weekends somewhere “tinkering”, as we like to say in the country. I didn’t see him much – neither did I talk to him. I’m still not sure what our last conversation was. But one thing I still remember very well. My dad always had the habit of reacting positively when he was told about good schoolwork or a good test:

“Papa, I have an A in physics!”
“Great!
And while he was saying, “Great!” he would always close his eyes and proudly smile.

I told myself that evening that it shouldn’t influence me too much. That’s why I decided to go to school the next day. Arriving at school the next day, I wanted to tell my German professor what had happened. I could not. I could not tell her what had happened. If I had said it, it would have to become more true. I was about to cry – and then somehow managed to describe what had happened the day before. My professor then said: “Flo – you go home right now and take time for yourself. If I see you again at school today, I’ll kick you out myself. I’d like to hug you right now, but then I’d also start crying.”

I took my teachers advice and left, but I didn’t go home. I drove through the city without any destination. Somehow everything reminded me of my father. The power lines of the trams (note he was an electrician), a pea-green Renault that drove past. He had taught me how to drive using the exact same car. A difficult day for me. My mom really wanted me to meet her and my sister. But I didn’t want that. What would it have brought me? We would have looked at each other and started crying our eyes out. I didn’t want that under any circumstances. I avoided them for almost a month – until the funeral.

I was offered a speech. I gave my best. I even had my German professor proofread the speech. I talked about perfection. When a person can be described as perfect and when not. From one perspective, something can work perfectly, but looking at it from another perspective, you can see its imperfections. My speech ended like this:

Was my father perfect? No. But he was completely friendly, completely outgoing and now and then also completely lazy. But the only thing that matters is that we loved him completely and that is why we are all here today.

For a long time I had a hard time talking about his death. My voice always began to tremble when I tried to talk about it. Meanwhile it is easier – but still difficult for me.

I would like to know so much about him and would like to tell him so much. I would like to ask him what his political attitude was or even found out his favorite beer. I would like to hear stories from his youth. Talk about the mistakes he made. What his youthful mishaps were. I would love to know so much that I will never know now. Sometimes I am jealous when friends* have a good relationship with their parents and can ask those previously mentioned questions. I won’t quite be able to come to terms with it – having so many unanswered questions. I miss him so much. I will never forget him.

(One of his favorite songs that I remember well is “My Name Is Not Susan” by Whitney Houston. We always danced to it on New Year’s Eve. Linked here for you, if you don’t know the song yet, or want to play it for my dad’s sake)

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your Florian

(thanks George with the translation ❤️)